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Rechtliche Aspekte bei „Sekten“ und „Psychogruppen“

Dieter Spürck

Die Auseinandersetzung mit sogenannten „Sekten und Psychogruppen“ hat oft rechtliche Konsequenzen. Von den zahlreichen betroffenen Rechtsgebieten1 sollen nachfolgend die für die Beratungspraxis interessantesten Themenfelder dargestellt werden.
 

Familienrecht

Eine zentrale Fragestellung ist, ob bzw. inwieweit die Einflüsse einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppe auf die el­terliche Erziehung dem Kindeswohl schaden können.2 Hiervon kann namentlich abhängen, ob bei einer Trennung der Eltern die Sorge über das gemeinsame Kind der Mutter oder dem Vater übertragen werden soll (Sorgerecht) und damit zusammenhängend, inwieweit dem anderen Elternteil der Umgang mit dem Kind gestattet werden soll (Umgangsrecht).
Zunächst ist festzustellen, dass sich die Eltern grundsätzlich bei der Erziehung ihrer Kinder auf die grundgesetzlich geschützte Erziehungsgewalt (sogenanntes „Elternprivileg“ des Art. 6 des Grundgesetzes) und auf die Glaubensfreiheit (Artikel 4 des Grundgesetzes) stützen können. In der Kinder- und Jugendhilfe und bei Sorgerechtsprozessen vor Gericht werden aber „oft einseitig die Religionsfreiheit des sorgeberechtigten Anhängers einer konfliktträchtigen Gruppe betont und die vom anderen Elternteil vorgebrachten Gefahren für das Wohl des Kindes zuwenig gewichtet“3. Der auf Kooperation zwischen Eltern und Kindern angelegte § 1626 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verbietet als „gesetzliches Leitbild“ mittelbar einen nur auf Gehorsam angelegten und auf Unterwerfung unter den elterlichen Willen abzielenden autoritären Erziehungsstil. Hier geht es vor allem um elterliche Züchtigungsmaßnahmen sowie Selbstüberwachungs- und Kontrollpraktiken, die mit starken Schuldgefühlen und Selbstbestrafungen einhergehen. Diese können bei jungen Menschen u.a. erhebliche Ängste (z.B. durch drastische dämonische Bilder) und Verfolgungsgefühle hervorrufen; das erfährt jedenfalls dann eine besondere Dramatik, wenn die Eltern-Kind-Beziehung stark ambivalent ausgestaltet ist.4 Einen Gegenpol hierzu bilden einige Strömungen, bei denen tendenziell verstärkt Laissez-faire-Haltungen anzutreffen sind (wobei allerdings kaum ein einheitliches Bild auszumachen ist).5 Dabei kommt es zuweilen zu einer erheblichen Vernachlässigung Minderjähriger durch ihre Eltern. Vereinzelt sind auch kindliche Zwangsmeditationen unter erheblicher Einschränkung der Bewegungsfreiheit anzutreffen.
Nach gefestigter Rechtsprechung schließt allein die „Sektenzugehörigkeit“ eines Elternteils nicht schon generell dessen Erziehungseignung aus.6 Allerdings ist es dem Staat in den Grenzen seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität nicht verwehrt, religiös bzw. weltanschaulich geprägte Erziehungsstile zu bewerten,7 insbesondere mit Blick auf das Kindeswohl. Ein überzogen autoritärer Erziehungsstil kann mit Blick auf die Rechte des Kindes insbesondere der grundgesetzlich geschützten Glaubensfreiheit des Kindes entgegenstehen, aber auch dessen Menschenwürde, die freie Entfaltung der Persönlichkeit oder die körperliche Unversehrtheit des Kindes verletzen. Außerdem haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 S. 1 BGB).
Insbesondere die nachfolgend genannten Erziehungspraktiken können im vorliegenden Zusammenhang das Kindeswohl beeinträchtigen:

 

Schulrecht

Zuweilen versuchen Mitglieder sogenannter „Sekten und Psychogruppen“, ihre Kinder dem staatlichen Schulunterricht aus religiösen Gründen zu entziehen. Dem hat die Rechtsprechung einen Riegel vorgeschoben. Beispielhaft zeigt sich das am Sexualkundeunterricht in der Schule. Fächerübergreifende Sexualerziehung in der Schule berechtigt grundsätzlich nicht zur Befreiung von der Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule. Eltern dürfen also nicht ihre Kinder von der Grundschule fernhalten, weil ihnen der dort stattfindende Sexualkundeunterricht nicht passt. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht wies eine entsprechende Berufung mit der Begründung zurück, das durch Artikel 6 des Grundgesetzes geschützte Elternrecht werde hierdurch nicht verletzt; eine Indoktrination der Kinder durch die konkrete Unterrichtsgestaltung liege nicht vor10.

 

Äußerungsrecht

Naturgemäß ist die Auseinandersetzung mit sogenannten „Sekten und Psychogruppen“ wesentlich durch das Äußerungsrecht geprägt. Immer wieder wird darum gestritten, welche kritischen Äußerungen über bestimmte Gruppierungen bzw. deren Mitglieder/Sympathisanten zulässig sind und welche nicht. Hier sind folgende Grundregeln zu beachten:
Grundsätzlich sind Äußerungen Privater und solche staatlicher Stellen zu unterscheiden. Privat sind hier alle Personen und Einrichtungen, die nicht staatlich bzw. städtisch und nicht mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Äußerungen Privater unterfallen dem Grunde nach dem Recht der freien Meinungsäußerung (Artikel 5 Abs. 1 Grundgesetz). Die Meinungsäußerung ist von der Tatsachenbehauptung zu unterscheiden: Die Tatsachenbehauptung ist „wahr“ oder „unwahr“ und dahingehend gerichtlich überprüfbar. Für gemischte Äußerungen mit Anteilen von Meinungsäußerung und Tatsachenbehauptung ist entscheidend, worin durchschnittliche Leser/Hörer den Schwerpunkt der Äußerung sehen. Eine Äußerung darf im Rahmen des geistigen Meinungskampfes scharf sein; unzulässig ist indes jede unverhältnismäßige Schmähkritik, deren Ziel allein darin besteht, den Kritisierten in seinem Geltungsanspruch herabzuwürdigen. Wegen einer unzulässigen Meinungsäußerung haben die Betroffenen grundsätzlich einen Unterlassungsanspruch. Bei einer unzulässigen (unwahren) Tatsachenbehauptung kann der Betroffene neben dem Anspruch auf zukünftige Unterlassung zudem den Widerruf der Äußerung verlangen.

Staatliche Stellen dürfen neben kritischen Äußerungen zum Schutz der Bevölkerung deutliche Warnungen aussprechen. Das Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bietet nach höchstrichterlicher Rechtsprechung keinen Schutz dagegen, dass sich der Staat und seine Organe mit den Trägern dieses Grundrechts sowie ihren Zielen und Aktivitäten öffentlich – auch kritisch – auseinandersetzen; allerdings ist eine inhaltliche Bewertung der jeweiligen Glaubenslehren als „wahr“ oder „falsch“ etc. wegen der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates unzulässig. Außerdem ist der Grundsatz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beachten (vereinfacht: Es darf nicht „mit Kanonen auf Spatzen geschossen werden“). Der Gebrauch der Begriffe "Sekte", "Jugendreligion", "Jugendsekte" und "Psychosekte" genügt dem staatlichen Neutralitätsgebot in religiös-weltanschaulichen Fragen. Er berührt den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht. Die Kennzeichnung namentlich als "destruktiv" und "pseudoreligiös" genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen dagegen nicht.

Staatliche Äußerungen zur Lehre von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften sind dann zulässig, wenn eine zur Warnung berechtigende Gefahrenlage besteht oder wenn die betroffene Lehre der Wertordnung der Grundrechte widerspricht. Dies gilt nicht nur für die Bundesregierung und die Landesregierungen, sondern auch für Städte und Gemeinden, wenn Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft betroffen sind. Derartige Äußerungen müssen aber der Glaubensfreiheit gerecht werden und dem religiös-weltanschaulichen Neutralitätsgebot sowie dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgebot genügen. Entsprechendes gilt für staatlich oder städtisch finanziell geförderte Beratungsstellen.

Weiterhin dürfen die Kirchen sich kritisch äußern. Soweit sie aber öffentlich-rechtliche Körperschaften sind, müssen sie gesteigerten Sorgfaltsanforderungen genügen.11 Soweit kirchliche Beratungsstellen mit öffentlichen Mitteln (mit-) finanziert werden, gelten für sie darüber hinaus die oben genannten strengen Neutralitätsregeln jedenfalls dann, wenn explizit religiös-weltanschauliche Konflikte mit Andersgläubigen im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung behandelt werden.

 

Vereinsrecht

In erster Linie betroffen durch die Modifizierung des Vereinsrechts ist der Fundamentalismus. Er erfasst zunehmend nicht nur die private Lebensgestaltung, sondern bietet in Teilbereichen den Nährboden für politischen Extremismus und Terrorismus. Das hat weniger für christlich-fundamentalistische Gruppierungen Bedeutung, sondern mehr für extremistische Gruppierungen muslimischer Prägung (beispielsweise durch das Attentat auf das World Trade Center in den USA). Der Gesetzgeber hat vor diesem Hintergrund und aufgrund der internationalen Verflechtungen des Terrorismus unter anderem das sogenannte „Religionsprivileg“ in Artikel 3 des Vereinsgesetzes gestrichen. Bis zu diesem Zeitpunkt unterlagen Religionsgemeinschaften nicht den Beschränkungen des Vereinsgesetzes; sie konnten insbesondere nicht nach dem Vereinsgesetz verboten werden. In direkter Umsetzung dieser Gesetzesänderung wurde der muslimisch verbrämte, fundamentalistische Kalifenstaat verboten. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel blieben erfolglos: Das Bundesverfassungsgericht bestätigte im Oktober 2003 das vor zwei Jahren erteilte Verbot. Im Jahr 2000 hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf dessen Führer Metin Kaplan zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er öffentlich zur Ermordung eines religiösen Gegners aufgerufen hatte. Derzeit betreibt das Innenministerium die Ausweisung Kaplans, der zwischenzeitlich wieder auf freiem Fuß ist. Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe ermittelt derzeit wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung.

 

Öffentliches Dienstrecht

Aber auch weniger spektakuläre Ausdrucksformen des Fundamentalismus beschäftigten das öffentliche Interesse: Eine umfangreiche Rechtsprechung und Diskussion in der Fachliteratur rankt sich insbesondere um die Frage, ob Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen und andere Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ein Kopftuch tragen dürfen. Die wohl herrschende Ansicht12 neigt dazu, das Tragen von Kopftüchern im Öffentlichen Dienst als unzulässig anzusehen. Denn dieses Verhalten demonstriert nicht allein eine religiöse Überzeugung, sondern primär eine fundamentalistische, tendenziell gegen Andersdenkende aggressive Grundhaltung (anders etwa beim Tragen eines schlichten Kreuzes oder vergleichbarer Symbole).

 

Heiler, Berater und Therapeuten

In der jüngeren Vergangenheit zeichnet sich ein verstärkter Trend zu zweifelhaften Beratungs- bzw. Behandlungsmethoden durch selbsternannte Therapeuten und Berater bzw. „Heiler“ oder „Gesundbeter“ ab. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht hierbei oft die Frage, ob es zu rechtserheblichen Täuschungen der Hilfesuchenden gekommen ist; dann kommt oft eine Rückzahlung der gezahlten Vergütungen in Betracht, die gegebenenfalls anwaltlich bzw. gerichtlich durchgesetzt werden kann. Teilweise entstehen auch Schadensersatzansprüche wegen Körperverletzung (z.B. bei gesundheitsschädlicher Behandlung durch „Kurpfuscher“). In vielen Fällen steht zudem die Ausübung unerlaubter Heilkunde nach dem Heilpraktikergesetz (§ 1) im Raum. So stellte das Oberverwaltungsgericht Münster unter Bezugnahme auf die umfangreiche Rechtsprechung zum Heilpraktikergesetz fest, dass auch eine Behandlung durch „Handauflegen“ grundsätzlich der Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde nach dem Heilpraktikergesetz bedarf.13 Allerdings ist der Nachweis teilweise schwierig, dass unerlaubte Heilkunde und nicht lediglich eine vom Heilpraktikergesetz nicht erfasste „Lebensberatung“ oder seelsorgerische Zuwendung („Beten“) o.ä. erfolgt.

Übrigens fallen auch sogenannte „Familienaufstellungen“ unter das Heilpraktikergesetz, soweit sie der Heilung von Krankheiten dienen sollen; in diesem Fall dürfen sie nur von staatlich geprüften Ärzten, psychologischen Psychotherapeuten, Heilpraktikern etc. vorgenommen werden. Ist es zu Unregelmäßigkeiten der vorgenannten Art gekommen, sollte immer auch das örtliche Gesundheitsamt informiert werden, dem möglicherweise bereits ähnliche Fälle bekannt sind und das weitere Schritte einleiten kann.

Das Heilpraktikergesetz findet auch dann Anwendung, wenn - was nicht selten geschieht - die (Heil-) „Behandlung“ als vermeintliche Ausbildung zum Heilpraktiker getarnt wird. Aufgrund der sinkenden Ärzteeinkommen durch Ärzteschwemme und Kostendämpfung im Kassenarztbereich entdecken immer mehr Ärzte die Esoterik als neue Verdienstquelle. Im Rahmen der gesetzlich garantierten Therapiefreiheit dürfen dabei Ärzte gegen Privathonorar (also außerhalb der Abrechnung mit den gesetzlichen Krankenkassen) Patienten selbst mit äußerst fragwürdigen Methoden behandeln. Wird allerdings der Rahmen überspannt (beispielsweise mit völlig überzogenen, offenkundig unsinnigen Heilungsversprechen oder extrem gefährlichen Behandlungsmethoden), kann die zuständige Ärztekammer und ggf. auch die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden; daneben können auch hier zivilrechtliche Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Behandlung, mangelnder ärztlicher Aufklärung oder gar wegen arglistiger Täuschung etc. bestehen. In einzelnen Fällen können auch Verstöße gegen das Heilmittelwerbegesetz (namentlich §§ 3 und 14) und auch gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) vorliegen. Zu den Tricks einiger Anbieter auf dem Psychomarkt gehört neben esoterisch verbrämtem „Hokuspokus“ auch das Führen falscher Titel (z.B. Dipl. Parapsychologe). Derartige Hochstaplerei ist nicht selten und veranlasst in dieser oder ähnlicher Form Berater von „Heilern“ etwa zu folgenden Empfehlungen (hier für den Fall, dass sich eine staatsanwaltschaftliche Wohnungsdurchsuchung abzeichnet): „Passen Sie Ihre Wohnverhältnisse den Verhaltensregeln für Heiler an: Entfernen Sie medizinisches Inventar aus Ihrem Behandlungszimmer. Hängen Sie die Dankschreiben Ihrer Patienten und Ihre falschen Titel von der Wand. Stellen Sie Ihre Bach-Blüten ins Bad oder die Küche.“14 Titelmissbrauch ist nach § 132a Strafgesetzbuch strafbar. Klienten/Patienten, die sich bei derartigen Hochstaplern aufgrund dieser falschen Titel in Behandlung begeben, haben unter Umständen einen Anspruch auf Rückerstattung der gezahlten Vergütungen. Zudem kommt eine Strafverfolgung durch die zuständige Staatsanwaltschaft in Betracht; nicht selten liegt auch in diesen Fällen das strafbare Ausüben unerlaubter Heilkunde nach dem Heilpraktikergesetz vor.

Ein weiteres Beispiel für die zunehmende zivilrechtliche und strafrechtliche Haftung ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes, der einen Anbieter sogenannter „Kaffeefahrten“ wegen unlauteren Wettbewerbs verurteilt hat.15 Der Anbieter hatte den Teilnehmern ein „leckeres Mittagessen“ versprochen, ihnen aber vor Ort lediglich Konservendosen mit Suppe oder Brechbohnen ausgehändigt. Hervorzuheben ist hierbei, dass wettbewerbsrechtlich nicht nur (teilweise weit verbreiteten) zivilrechtliche Unterlassungsbegehren geltend gemacht werden können (in der Regel durch gerichtliche einstweilige Verfügungen bzw. vorherige anwaltliche Abmahnungen, die Konkurrenten veranlassen), sondern gem. § 4 UWG auch eine strafrechtliche Haftung entstehen kann (wie im vorliegenden Fall).

Insgesamt zeigt sich, dass zahlreiche zweifelhafte Anbieter auf dem Psychomarkt zu immer dreisteren Methoden greifen. Bei einigen Vorgehensweisen findet „normales“ Verbraucherschutzrecht Anwendung und ermöglicht neben strafrechtlicher Verfolgung oft die Rückerstattung gezahlter Vergütungen und unter Umständen auch Schadensersatz. In jedem Fall lohnt die Kontaktaufnahme mit spezialisierten Beratungsstellen wie dem Sekten-Info Essen e.V.. Denn aufgrund der dort gesammelten Informationen lassen sich oft erhebliche Nachweisschwierigkeiten in straf- oder zivilrechtlichen Prozessen beseitigen (z.B. durch das Benennen glaubwürdiger Zeugen, die als Geschädigte gleiche Erfahrungen gemacht haben).

Letztlich kommt es mit Blick auf Behandlungen zunehmend auch in einem ganz anderen Bereich zu juristischen Komplikationen: Vielfach sind nämlich die Eltern unterschiedlicher Auffassung, ob medizinische Behandlungen sinnvoll sind oder nicht. Das hat beispielsweise bei bestimmten, zweifelhaften esoterischen Angeboten praktische Bedeutung, die ein Elternteil gegen den Willen des anderen Elternteils beim Kind anwenden lassen möchte. Relevant wird dies aber auch bei Bluttransfusionen, deren Anwendung teilweise mit religiöser Begründung abgelehnt wird. Entscheidend ist hier, welchem Elternteil das Sorgerecht gebührt. Obliegt beiden Eltern das Sorgerecht gemeinsam (das ist zum Beispiel in aller Regel nach einer Trennung der Eltern der Fall, wenn keine anderweitige Regelung getroffen wurde), müssen sie beide einer medizinischen Operation des Kindes zustimmen. In dringenden Fällen kann das zuständige Gericht auch gegen den Willen beider Eltern entscheiden; in unvorhergesehen lebensbedrohlichen Situationen kann u.U. der Arzt entscheiden.
Wer sich über die Seriosität eines Angebotes nicht sicher ist, kann sich beim Sekten-Info Essen e.V. beraten lassen, bevor er vertragliche Beziehungen mit dem Anbieter eingeht. Wer schon einen Vertrag abgeschlossen hat, muss aber nicht erst warten, bis ein Schaden eingetreten ist. Denn in den meisten Behandlungs- und Beratungsverträgen werden sogenannte „Dienste höherer Art“ angeboten, bei denen ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragsparteien besteht. Diese können grundsätzlich – neben anderen Möglichkeiten (z.B. Anfechtung gem. §§ 119 fortfolgende BGB wegen Irrtums, Täuschung; Kündigung gem. § 626 BGB wegen Vorliegen eines wichtigen Grundes) auch fristlos gem. § 627 BGB gekündigt werden. Voraussetzung ist dabei aber, dass kein Arbeitsverhältnis („Anstellungsverhältnis“) besteht und dass keine festen Bezüge („regelmäßiges Einkommen“) gezahlt werden. Diese Kündigungsmöglichkeit greift vor allem bei langfristigen Behandlungs- oder Beratungsverträgen – auch dann, wenn im Vertrag diese Kündigungsmöglichkeit nicht erwähnt wird.
Nur wenn diese Kündigungsmöglichkeit ausdrücklich im Vertrag ausgeschlossen ist, bleibt nur noch ein Rückgriff auf die oben genannten (und gegebenenfalls weitere) Anfechtungs- bzw. Kündigungsmöglichkeiten.

Wegen der zahlreichen Beschwerden über zweifelhafte Beratungs- bzw. Behandlungsmethoden werden schon seit geraumer Zeit verschärfte gesetzliche Regelungen gefordert. Das zuletzt im politischen Raum diskutierte Lebensbewältigungshilfegesetz bzw. Psychovertragsgesetz ist bislang noch nicht verabschiedet worden, befindet sich mittlerweile aber immerhin auf dem parlamentarischen Weg. Der am 22.9.03 in den Bundesrat eingebrachte bayerische Gesetzentwurf begründet das Gesetzgebungsvorhaben insbesondere mit den durch die Anwendung unkonventioneller Psycho- und Sozialtechniken verbundenen Abhängigkeitsverhältnissen vom Dienstanbieter, so „dass die konkrete Gefahr finanzieller Ausbeutung und gesundheitlicher Schädigung besteht“.16 Das als Verbraucherschutzgesetz ausgestaltete Regelungswerk soll vor allem die Dienstleister gesetzlich verpflichten, vor dem jeweiligen Vertragsabschluss konkrete Auskünfte über ihre Qualifikation, die angewandten Methoden, die Dauer der Kurse und die finanziellen Verpflichtungen zu geben. Ferner soll (über die bisherigen Möglichkeiten hinaus, insbesondere mit Blick auf §§ 621, 626 und 627 BGB) der Verbraucher den Vertrag vorzeitig beenden können.

 

Schenkkreise / Schneeballsysteme

In letzter Zeit häufen sich Beschwerden über Schenkkreise (z.B. der „Herzkreis“). Eine ausführliche Darstellung hierzu finden Sie in dem Beitrag Schenkkreise.
Rechtlich diskutiert wird hierbei, ob es sich dabei mindestens teilweise um – esoterisch verbrämte – Schneeball- bzw. Pyramidensysteme handelt. Betroffene verschenken viel Geld insbesondere in der Hoffnung, dass sie durch nachfolgende Schenkungen neu Hinzukommender deutlich mehr Geld zurückerhalten, als sie in dieses System investiert haben. Während die Gewinne derjenigen, die derartige Systeme gründen bzw. früh einsteigen, immens sein können, wird es sehr schnell für diejenigen, die später bzw. zu spät hinzukommen, zu einem erheblichen Verlustgeschäft. Diesen Schaden können oder „müssen“ (wenngleich es keine förmliche Anweisung dazu gibt) Geschädigte faktisch dadurch verhindern oder jedenfalls verringern, dass sie weitere Opfer anwerben, die Geld ins System einbringen. Viele fühlen sich „betrogen“. Strafrechtlich wird man in diesen Fällen grundsätzlich kaum etwas ausrichten können, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten (z.B. bewusste und nachweisbare Täuschungshandlungen). Ein Betrug im Sinne des § 263 des Strafgesetzbuches kommt ausnahmsweise in Betracht, etwa wenn unter Vorspiegelung falscher Tat­sachen Gewinngarantien gegeben werden (was aber zumeist durch geschickte Formulierungen vermieden wird), oder nachweislich durch Platzhalterbeiträge größere Kreisbeteiligung vorgetäuscht wird, um schneller an das Geld der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu gelangen.

Zudem fallen derartige Schenkkreise nicht unter das Verbot von Schneeball- bzw. Pyramidensystemen im Sinne des § 6c des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. Das gilt jedenfalls, soweit sie sich (typischerweise) im privaten Bereich abspielen und nicht gewerblich bzw. geschäftlich betrieben werden. Offen bleibt meist auch die Frage, ob der eine oder andere Schenkkreis zur Geldwäsche missbraucht wird. Ob in derartigen Fällen innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist die gezahlten Beträge zurückgefordert werden können, ist zweifelhaft. Zwar hat der Bundesgerichtshof für Zivilsachen bereits vor geraumer Zeit bestimmte Schneeball- bzw. Pyramidenspiele für sittenwidrig gem. § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches erklärt: „Ein solches Spielsystem, das darauf angelegt ist, dass die ersten Mitspieler einen (meist) sicheren Gewinn erzielen, während die große Masse der späteren Teilnehmer ihren Einsatz zwingend verlieren muss, weil angesichts des Vervielfältigungsfaktors in absehbarer Zeit keine neuen Mitspieler mehr geworben werden können, verstößt gegen die guten Sitten.“17 Konkret mit Blick auf das „Herzkreis“-System hat allerdings das Amtsgericht Köln einen Rückerstattungsanspruch zurückgewiesen.18 Denn den Zahlenden sei selbst sittenwidriges Verhalten vorzuwerfen, soweit sie sich zumindest leichtfertig der möglichen Erkenntnis verschließen, dass sie an einem zweifelhaften Rechtsgeschäft teilnehmen. Das am 18.2.04 verkündete Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig (Stand: Februar 2004). Abzuwarten ist, ob hiergegen Berufung eingelegt werden wird. Möglich ist, dass andere Gerichte diesen Fall anders sehen, denn jedenfalls für viele juristische Laien erschließt sich die Zweifelhaftigkeit des Rechtsgeschäfts gerade nicht. Die restriktive Entscheidung des Amtsgerichts Köln zeigt, wie wichtig es ist, sich sachkundigen Rat bei einer fachkundigen Beratungsstelle einzuholen, um böse Überraschungen zu vermeiden. Betroffene, die sich geprellt fühlen, sollten sich in derartigen Fällen zusammenschließen und gegebenenfalls anwaltlichen Rat einholen. In der Regel tragen die Rechtsschutzversicherungen die Kosten der anwaltlichen Dienste bzw. eines Gerichtsprozesses. Für finanziell schlechter Gestellte kann alternativ staatliche Beratungs- bzw. Prozesskostenhilfe beantragt werden.

Für Ausstiegswillige ist es in jedem Fall ratsam, die noch bestehenden Kontakte zu nutzen, um Beweise für eine mögliche spätere rechtliche Auseinandersetzung zu sammeln (Namen, Vornamen, Anschriften, Telefonnummern, Dokumente, Autokennzeichen etc.). Betroffene sollten sich davor hüten, zur vermeintlichen Schadensbegrenzung selbst Opfer anzuwerben, um das System nicht weiter auszudehnen und damit andere zu schützen und auch um sich nicht selbst Rückforderungsansprüchen auszusetzen. Zudem müssen Ausstiegswillige - wie auch bei klassischen „Sekten und Psychogruppen“ - damit rechnen, dass versucht wird, sie „bei der Stange zu halten“. Die Palette kann hier von vermeintlichen Freundlichkeiten über Scheinargumente bis hin zu faustdicken Drohungen reichen. Unter Umständen ist es hier sinnvoll, sich eine neue (anonyme) Telefonnummer geben zu lassen bzw. Anrufe zurückzuverfolgen (entweder durch das Display auf dem eigenen Telefon, durch ein Zusatzgerät oder durch eine sogenannte „Fangschaltung“).

 

Anmerkungen:

  1. « Vgl. die übersichtliche Zusammenstellung von Abel, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2003, S. 264 und zuvor NJW 2001, S. 410.
  2. « Ausführlich hierzu: Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen: Familienrechtliche Konflikte mit "Sekten und Psychokulten"
  3. « Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport: "Alles Sekte - oder was?", S. 99.
  4. « Deutscher Bundestag: Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", S. 167 folgende.
  5. « Deutscher Bundestag, Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", S. 170.
  6. « Gefestigte Rechtsprechung, vgl. etwa: Bay. OLG NJW 1976, S. 2017; OLG Hamburg FamRZ 1985, S. 1284; OLG Stuttgart FamRZ 1995, S. 1290; OLG Düsseldorf FamRZ 1995, S. 1511; OLG Saarbrücken FamRZ 1996, S. 561; OLG Hamburg FamRZ 1996, S. 684; eingeschränkt OLG Frankfurt a.M. FamRZ 1994, S. 920; vgl. auch OLG Oldenburg NJW 1997, S. 2962.
  7. « In diesem Sinne OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 2.12.1993 - 6 UF 105/93, FamRZ 1994, S. 920 (921).
  8. « Deutscher Bundestag: Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", S. 184 fortfolgende.
  9. « Deutscher Bundestag: Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", S. 180.
  10. « Entscheidung vom 5.3.03, Aktenzeichen: 13 LB 4075/01; ähnlich auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Blick auf religiös begründeten Heimunterricht als Alternative zum Schulbesuch, Aktenzeichen: 7 ZB 02.1701; VGH Mannheim, Aktenzeichen: 9 S 2441/01; Verwaltungsgericht Freiburg, Aktenzeichen: 2 K 2467/00; Verwaltungsgericht Braunschweig, Urteil vom 17.12.03 - Aktenzeichen: 6 A 568/02.
  11. « Bundesgerichtshof für Zivilsachen, Urteil vom 20.2.2003, Aktenzeichen: III ZR 224/01.
  12. « Insbesondere: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4.7.02, Aktenzeichen: BVerwG 2 C 21.01, Neue Juristische Wochenschrift 2002, S. 3344.
  13. « OVG Münster, Urteil vom 8.12.1997, Aktenzeichen: 13 A 4973/94; vgl. auch bereits Bundesgerichtshof, Urteil vom 13.9.1977, Aktenzeichen: 1 StR 389/77
  14. « Firgau, Rechtshandbuch für Heiler, 3. Auflage, Schriftenreihe des Dachverbandes Geistiges Heilen e.V., Weinheim 1997, S. 45.
  15. « BGH, Urteil vom 15.8.2002, Aktenzeichen: 3 StR 11/02.
  16. « Bundesrats-Drucksache 690/03, S. 1.
  17. « Urteil vom 22.4.1997, Aktenzeichen: XI ZR 191/96; Mitteilung der Pressestelle Nr.25/1997 vom 22. April 1997. Zu vergleichen auch: Landgericht Düsseldorf, Urteil vom 13.9.1996, Aktenzeichen: 20 S 4/96; ferner das Landgericht Göttingen in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001, Aktenzeichen: 1 S 274/00.
  18. « Presseinfo des Amtsgerichts Köln vom 18.2.03, Aktenzeichen: 112 C 5517/03.

 

Verwendete und weiterführende Literatur:

 

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